top of page

Kettwiger BildGeschichten

Berufsstand_Kettwiger_Bildgeschichten.jp
"Berufsstand, um 1910"

Foto-Postkarte, ohne Beschriftung und Datum, um 1910, Archiv des Verfassers

 

Die Personen auf der abgebildeten Foto-Postkarte haben Posen eingenommen. Sie wirken hölzern und steif wie Standpuppen. Um 1910 wurde das Erscheinen im Bild als Auftritt in der Öffentlichkeit aufgefasst. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Der soziale Status, häufig auch der Beruf, war an der Kleidung erkennbar.

 

Die Männer repräsentieren vor dem Haus, die Frau befindet sich im Haus. Der ältere Mann mit schwarzem Gehrock, Hut und Taschenuhr steht an der Spitze der Hierarchie. Er ist der Frau am Fenster zugewandt, die sich eine weiße Schürze umgebunden hat. Der junge Mann, links zwischen den beiden Bäumen, trägt keine Kopfbedeckung. Sein Gehrock ist grau. Entsprechend seiner hierarchischen Einordnung hält er Abstand zu der Dreiergruppe. Der Mann, ganz rechts im Bild, trägt zum grauen Gehrock eine Mütze. Seine Taschenuhr und die lange Pfeife in seiner Hand sind Statussymbole. „Studierpfeife“ nannte man eine solche Pfeife, da sie gerne bei der Arbeit am Schreibtisch genutzt wurde. Am Schreibtisch sitzend, reichte die Pfeife bis auf den Boden.

 

„Rums, da geht die Pfeife los, mit Getöse, schrecklich groß“ schreibt Wilhelm Busch. Wer denkt da nicht an den armen Lehrer Lämpel, dem die lange Pfeife um die Ohren flog, nachdem Max und Moritz sie nicht mit Tabak, sondern mit Flintenpulver gefüllt hatten. An den Gehröcken und der langen Pfeife erkennen wir eine Gruppe von Lehrern, die sich „standesgemäß“ angezogen haben.

 

Die Lehrer stehen vor der „Evangelischen Schule in Schuir“, die ab 1911 „Pierburger Schule“ genannt wurde. Die Gebäude stehen noch heute an der Straße „An der Pierburg“.

 

Nach zwei bekannten Vorgängergebäuden von 1676 und 1733, wurde von 1845 bis 1847 das rechte Gebäude für eine einklassige Schule mit Lehrerwohnung errichtet. Die neue Schule entstand in Nähe der Vorgängerschulen. Die Gesamtanlage umfaßte auch Ställe und Ackerland für den Lehrer, sowie Schulhof und Obstgarten für die Schüler.

 

Von 1910 bis 1911 wurde für eine 2. Klasse, die 20 Jahre provisorisch in einem gemieteten Hinterraum im heutigen Lokal „Pierburg“ untergebracht war, ein Anbau errichtet (helles Gebäude in der Bildmitte). Gleichzeitig wurde das bestehende Schulgebäude modernisiert, die Lehrerwohnung verbessert und ein Vorbau vor dem Eingang der Lehrerwohnung angebracht (auf dem Foto noch nicht vorhanden). Am 31. Januar 1911 fand die Einweihung des fertiggestellten Anbaus statt.

 

Das Foto wird demnach gegen Ende des Jahres 1910 oder Anfang des Jahres 1911 entstanden sein, als die Erweiterung des Schulgebäudes nahezu abgeschlossen war. Auf dem Foto präsentieren sich die Lehrer wahrscheinlich vor ihrer vor kurzem erweiterten und modernisierten Schule.

 

In dieser Zeit war Otto Bockemühl Hauptlehrer an der Pierburger Schule. Otto Bockemühl war hier dreißig Jahre Lehrer (1886 bis 1916). Er war hochangesehen, obwohl er selbst für die damalige Zeit als sehr streng galt. Die Söhne des Hauptlehrers Bockemühl waren zeitweilig als 2. Lehrer an der Pierburger Schule tätig. Omar Bockemühl war 1910 der 2. Lehrer. Demnach raucht er wohl die lange Pfeife. Der junge Mann links im Bild könnte ein jüngerer Sohn aus der Lehrerfamilie Bockemühl sein, der sich in der sogenannten Präperandie, der ersten Stufe der damaligen Ausbildung zum Volksschullehrer befindet.

 

Im alten Schulgebäude befand sich auch die Lehrerwohnung. Seit 1857 gehörte es zu den Aufgaben der Frau des Lehrers, die Mädchen der Schule in Handarbeiten zu unterrichten. Es liegt also nahe, dass die Frau am Fenster, die Frau von Otto Bockemühl ist.

 

Im Zuge der Neuordnung des Schulwesens in NRW wurde der Schulbetrieb an der „Pierburger Schule“ 1968 eingestellt.

 

Obwohl Raucher in unserer Zeit nahezu von der Bildfläche verschwunden sind, noch ein Nachtrag zur langen Pfeife. Erich Bockemühl, ebenfalls ein Sohn von Otto Bockemühl und auch Volksschullehrer und Dichter schreibt romantisierend in seinen Erinnerungen:        

"Unser Lehrer, das wußten wir wohl, paffte morgens wie nach der großen Pause noch vorher einmal kräftig und wohl auch noch und noch einmal, bevor er die Pfeife im Hausflur, von dem aus eine Tür zum Schulraum führte, in die Ecke stellte, um sie nach dem Unterricht gleich wiederzufinden. Bis 1870 war es den Lehrern nicht verboten, die lange Pfeife während des Unterrichts hinter dem Pult zu rauchen, ein Zeichen dafür, wie gemütlich der Schulbetrieb einst vonstatten ging."

 

 

 

Dezember 2019                     Helmut Wißler

bottom of page