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Liebeserklärung an Kettwig

Sommer in Kettwig

​"Sommer fängt für mich erst richtig an, wenn ich durch die Kopfsteinpflaster-Strässchen von Kettwig gehe. Seit meiner Geburt habe ich meine Sommer in dem kleinen deutschen Städtchen verbracht und kann mir keine Ferien vorstellen ohne seine einladenden Schaufenster und Straßencafés, die ständig von kleinen Gruppen freundlicher Europäer mittleren Alters belagert werden.

 Kettwig ist ein Vorort der Großstadt Essen, in Westdeutschland, und hat etwa 17.000 Einwohner. Es ist einer von den Orten, die so alt sind, daß man praktisch an jeder Ecke irgendein faszinierendes Stückchen Geschichte entdecken kann. Die erste dokumentierte Erwähnung Kettwigs stammt aus einer Urkunde aus dem Jahre 1052, und die ältesten Gebäude mitten in der Altstadt wurden bereits im 14. Jahrhundert erwähnt. Da es in Kettwig keine kriegsrelevante Industrie gab, überlebte ein großer Teil der historischen Altstadt den zweiten Weltkrieg und steht noch heute. Und noch immer ist Kettwig ein pulsierendes Städtchen, voller Leben und mit einem ganz besonderen Sinn von Nachbarschaft.

 

​Ich bin nicht sicher, was meine erste Erinnerung an Kettwig ist - nachdem ich so viel Zeit meiner Kindheit in dieser Stadt verbracht habe, fließen die Sommer ineinander über. Meine früheste Erinnerung ist wohl ein Spaziergang entlang der Ruhr, mit dem Versuch, den fetten Schnecken auszuweichen, die sich nach dem kürzlichen, scheinbar endlosen Regen Zentimeter für Zentimeter durch den Matsch schieben. Oder vielleicht wie ich mit meinen älteren Cousinen im Garten meiner Oma den Abhang hinunter gerollt bin. Oder wie man den Berg hinab den Weg zur Eisdiele findet, für eine Kugel vom besten Haselnußeis der Welt. Ich kenne dieses Städtchen in und auswendig - und das Städtchen kennt mich. Zu gerne würde ich die Wochen, die ich in Kettwig verbracht habe, als Daumenkino Revue passieren lassen, jedes Jahr meiner Kindheit und als Teenager auf einen Monat zusammen gepresst. Vielleicht deshalb kommt es mir vor, als sei ich hier aufgewachsen, zwischen den bemoosten Bäumen und Jahrhunderte alten Sträßchen Kettwigs. 

Nicky de Nocker wurde 1995 in Los Angeles geboren, hat seitdem aber jedes Jahr im Sommer zumindest fuer ein paar Tage ihre Oma in Kettwig zum Geburtstag besucht.

Nicky hat an der Universitaet von Kalifornien in Santa Barbara ihren Bachelor in Psychologie erhalten und moechte demnächst in diesem Fach weiter studieren.

Zunaechst aber hat sie den Sommer 2017 zu einem intensiven Deutschkurs in Berlin genutzt. Sie liebt das Reisen (war schon auf vier Kontinenten), Malen und die Fotografie. Nicky spielt Gitarre und ist auch an Literatur sehr interessiert.

Diese beiliegende Liebeserklärung an Kettwig hat sie für einen Kurs in kreativem Schreiben an der Uni verfasst.

Etwas was ich besonders liebe hier, ist das die Stadt von dichten Wäldern umgeben ist. Als kleines Kind bin ich praktisch täglich mit meinen Eltern und jüngeren Geschwistern durch diese Wälder spaziert - vielfach kann man die Wege durch die Wälder gar als Abkürzung zu einem anderen Ortsteil nutzen, und mein Vater lässt keine Gelegenheit zu einem Gang durch den Wald aus. Ich habe die dichten Wälder immer genossen, umgeben von etwas so großem und doch so friedlich. Meine Geschwister und ich haben dann oft gesungen - manchmal amerikanische Popsongs oder auch alte deutsche Kinderlieder. Seit ich älter wurde, höre ich lieber zu, wenn ich durch diese Wälder gehe: entweder wenn mein Vater erzählt wie es war, als er in diesem Städtchen aufwuchs, oder einfach nur dem Gezwitscher der Vögel in den Bäumen über mir.

   

Die dichten Wälder öffnen sich dann zur Mitte der Stadt, die von einer kurvigen Straße umrundet wird, auf deren Puzzle von unterschiedlich großem Kopfsteinpflaster es immer etwas holprig zugeht. Kleine Läden und Lokale säumen die Straße auf beiden Seiten, wo große Schaufenster die Passanten verführen, einen Blick auf wunderschöne Handarbeit zu werfen. Mehrere Läden strotzen voll bewundernswertem Design von Dekorationsartikeln aller Art, andere locken mit vielfarbigen Kindermoden - einer Faszination der ich fast nie widerstehen kann. Als kleines Kind konnte ich nicht umhin, sehnsüchtig die süßen Babypuppen in den Schaufenstern anzustarren, bis meine Mutter mir erlaubte, eine auszusuchen und sie kaufte. In typisch deutscher Manier gibt es immer in nächster Nähe eine Eisdiele, und süße Eishörnchen, die nach Zitrone und Stracciatella duften, mischen sich in das Straßenbild und scheinen ziellos aus offenen Ladentüren zu schweben.     

 

Im Sommer ist die kleine Straße oft prall gefüllt mit Besuchern des Marktes oder eines Straßenfestes, die sich im Vorbeigehen ein freundliches 'Guten Tag' zurufen. Kurz vor dem 'Café am Markt' öffnet sich die sonst enge Straße zu einem breiteren Marktplatz, auf dem man verschiedene Buden findet, die frische Früchte und Gemüse anbieten oder unwiderstehliche Backwaren. Dazwischen können die Besucher hier und dort auch einen kleinen Stand finden, an dem auf dem engen Bürgersteig kochend heiße Bratwurst zum Kauf geboten wird. Obwohl ich normalerweise vegetarisch lebe, muss ich zugeben, daß diese Würste mit einem ganz speziellen, pikanten Geschmack begeistern. Ein Stückchen weiter findet man oft kleine Kinder, die sich gegenseitig durch das spritzende Wasser von flachen Brunnen jagen - ein Zeitvertreib, den ich auch mit meinen Cousinen über die Jahre oft genossen habe.

   

   In der Mitte von all diesen eng aneinander liegenden Geschäften und Cafés, öffnet sich ein kleiner Innenhof zu einer wunderschönen alten Kirche. Der Weg um die hohen Kirchenmauern führt zu einer steilen Treppe mit ungeraden Stufen, die durch miteinander verschachtelte Häuser hinab geht. Die Häuser sind alle weiß mit dicken schwarzen Balken und Blumenkästen vor den Fenstern. Einige von ihnen lehnen etwas schief in die eine oder andere Richtung  - ein stilles Zeichen ihres erstaunlichen Alters. Die Fensterläden an diesen Häusern sind immer weit geöffnet und die Blumen frisch gewässert, was ihnen einen perfekten Anflug von Vertrautheit verleiht, selbst wenn ich nie ein Gesicht in den offenen Fenstern gesehen habe. Über die lange Treppe beugt sich die schwarze Statue eines Nachtwächters. In der einen Hand hält er eine Hellebarde, mit der anderen verbreitet er Licht aus einer gelben Laterne. Die Statue huldigt den echten Nachtwächtern, die vor einigen Jahrhunderten durch die Städte zogen, jede Nacht die fortschreitenden Stunden verkündeten und die Anwohner vor Gefahren schützten. Obwohl diese Wächter heute hier nicht mehr patrouillieren, habe ich die Statue immer als Zeichen der Sicherheit und liebevollen Obhut empfunden, welches Kettwig seinen Bewohnern bietet.                                        

Halbwegs die geknickte Treppe hinab befindet sich ein Absatz, der zum Eingang der 'Stiege' führt, einem allseits bekannten Lokal im Schatten des Kirchturms, welches seinerseits hoch über den umliegenden Häusern thront. Der vordere Raum der 'Stiege' kann getrost als beengt bezeichnet werden. An einer schrankgrossen Toilette vorbei und nach einem kurzen Flur führt eine beängstigend schmale Treppe heraus aus diesem Raum und dem Gast eröffnet sich ein wunderbarer Biergarten unterhalb des Glockenturms. An der Hauswand entlang erschließt sich eine Theke und die restliche Fläche ist mit zahlreichen Tischen und Stühlen unterschiedlicher Größe gefüllt. Die rechte Seite der Terrasse bietet einen beeindruckenden Blick auf Meilen von Bäumen und steile, pfannengedeckte Dächer von etwas abseits gelegenen Häusern. In der Ferne gleiten Autos scheinbar lautlos über die Ruhrtalbrücke, um auf der anderen Seite in den weiten Ausdehnungen von Bäumen zu verschwinden. Über die Jahre habe ich Spaß daran gefunden, zu beobachten wie diese kleinen Autos an unserer Stadt vorbei kommen und dann weiter zu ihren jeweiligen Zielorten gleiten. Überall auf der Terrasse verteilt stehen riesige Sonnenschirme, die nicht nur für diverse Biersorten werben sondern überdies die Gäste vor der Sonne schützen - oder öfters auch vor plötzlich einsetzenden Regenschauern. Die Tische stehen so nah beieinander daß es praktisch unvermeidbar ist, den einen oder anderen Tischnachbarn gelegentlich mal anzustubsen, doch glücklicherweise scheinen sich alle hier in Kettwig zu kennen, zumindest 'vom sehen'. Zumindest beobachte ich, jedes Mal wenn wir in die Stiege gehen, daß mein Vater sofort jemandem zunickt, den er vermutlich von früher kennt, wie zum Beispiel dem alten Zahnarzt der Familie oder dem Anwalt seines Lehrers. 

​   Sobald wir am Tisch platzgenommen haben, kommt schon eine Kellnerin und fragt, was wir trinken wollen. Mein Vater bestellt immer Bier und versichert der Kellnerin, daß er kein Glas braucht, meine Geschwister und ich bestellen Fanta. Anders als die ekelerregend süße Flüssigkeit, die in den USA verkauft wird, ist deutsche Fanta sprudelnd und erfrischend. Und falls mir der Sinn nach etwas besonderem steht, bestelle ich das klassisch deutsche 'Spezi', eine köstliche Mischung von Fanta und Cola. Die Speisekarte der Stiege ist weder außergewöhnlich noch besonders schick, aber sie beinhaltet die Klassiker eines verlässlichen deutschen Restaurants. Mein Vater ist ein Fan vom 'Strammen Max', einer dicken Scheibe Brot belegt mit Schinken und einem Spiegelei obendrauf. Wenn ich mich nicht entscheiden kann, empfiehlt er mir auch oft 'Gebackenen Camembert' - dabei handelt es sich um einen Weichkäse, der in Kräutern und Brotkrumen gebacken wird, serviert mit einer süßen Preiselbeersoße. Der absolute Renner der deutschen Küche ist wohl 'Schnitzel' und die Stiege bietet drei Varianten an: Wienerschnitzel (normales Schweineschnitzel), Jägerschnitzel (Schweineschnitzel mit einer Pilzsoße) und Zigeunerschnitzel (Schweineschnitzel mit einer scharfen Gemüsesoße). Alle werden dampfend heiß serviert, verbreiten einen starken Bratenduft, und dazu gibt es eine große Portion Pommes und Majonäse. Wer etwas süßes mag, dem werden hier köstliche Kuchen und Teilchen angeboten - überhaupt ist es ja schwer in Deutschland, weit zu gehen ohne daß einem ein herrliches Stück Kuchen das Wasser im Munde zusammen laufen lässt.

 

 Wenn alle mit dem Essen fertig sind, bleibt man zur weiteren Unterhaltung (sowie für ein oder zwei weitere Biere) sitzen, in aller Regel zumindest ein oder zwei Stunden. Gleichmäßiges Geschnatter füllt die Terrasse, ab und an unterbrochen von lautem Gelächter und dem regelmäßigen Schlagen aus dem Glockenturm. Die vielen Unterhaltungen die ich in diesem Biergarten hatte, drehten sich zumeist um Themen wie 'was macht die Schule' oder 'wer von deinen Freunden geht mit wem' bis zu 'was sind deine Pläne für die nächsten Jahre'. Jeden Abend ergießt sich ein fröhliches Stimmengewirr langsam über den Rand der Terrasse hinab in die darunter liegende Stadt. Der Horizont ist gefüllt mit endlosen Reihen von Bäumen, gepunktet mit winzigen Häusern und die Ruhrtalbrücke schimmert in der Ferne, wo Autos in die nächsten Städte reisen. Langsam färbt sich der Abendhimmel rosa und die Sonne verabschiedet sich von einem weiteren Tag in Kettwig."

-Übersetzung von Stefan de Nocker

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